Macht Frieden
Vortrag von Reinhilde Gönnewicht M.A. zur Eröffnung der Ausstellung „Menschenbilder“ im Hotel Mercure in Schweinfurt am 24.07.02
Das Künstlerprojekt „Macht Frieden“ e.V. hat schon von sich reden gemacht – und das nicht zu Unrecht, wie ich meine. Dieser Zusammenschluss von Künstlern aus Schweinfurt und der näheren und weiteren Umgebung ist eine wahre Bereicherung für all die Menschen, die Kunst nicht nur als dekoratives Beiwerk verstehen, sondern Kunst als Bestandteil des Lebens empfinden.
Zum Bestandteil des Lebens kann etwas gewollt oder ungewollt werden. Die Künstlerinnen und Künstler müssen schaffen, die Kunst ist Bestandteil ihres Lebens, ohne den das Leben für sie nicht greifbar wäre. Wir, die wir Kunst konsumieren, haben die Entscheidung, ja oder nein zur Kunst zu sagen. Wir können sie bewusst in unser Leben einfließen lassen. Sie kann uns ästhetische Bereicherung sein, aber wir können sie auch nutzen, um uns auseinander zu setzten mit uns, unseren gesellschaftlichen Strukturen und deren politische Auswirkungen.
Aber ist nicht die kritische Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft, in erster Linie die kritische Auseinandersetzung mit uns selbst, dem Menschen? Wir erkennen, dass Politik, Gesellschaft und Mensch eng miteinander verbunden sind; das Individuum ist geprägt von Sitte, Brauch und Tradition seiner Gemeinschaft, die wiederum durch die Ideen und Fähigkeiten seiner Individuen geprägt wird. Es kommt zu einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft, die sich explosionsartig entladen kann in Form von Revolutionen aller Art oder aber, sich nur langsam auswirkt und manchmal erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten seine Wirkung auf die Gesellschaft zeigt und ein sich immer in Bewegung befindliches Bild vom Menschen prägt.
Diese Bewegung, die während des gegenseitigen Einflussnehmens entsteht, meine ich im Gemälde von Constanze Hochmuth-Simonetti wieder zu finden. Das großformatige Werk der Künstlerin mit dem Titel „Der schmale Weg“ gibt auf dem ersten Blick eine gesichtslose Menschenmenge wieder. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die blass-monotone Farbgebung, die keinerlei Individualität vermuten lässt. Doch jeder weitere Blick eröffnet die Vielschichtigkeit der Bildaussage.
Die scheinbar gesichtslose Masse, wird zu einer Interessengemeinschaft, die sich auf unterschiedlichen Wegen und Abzweigungen in die gleiche Richtung bewegen, auf Wegen, die sich wie Schleifenband durch den Bildraum schlängeln. Fokussiere ich mich tiefer in das Bild hinein, erkenne ich die Menschen, die diese Gruppe ausmachen. Sie gehen nebeneinander her, wenden einander zu oder ab, tragen zur Bewegung der Gruppe bei oder dämpfen sie durch die Statik ihrer Körperhaltung. Doch die Bewegungsrichtung bleibt nach vorne gerichtet, unaufhaltsam einer gemeinsamen Zukunft entgegen. - Constanze Hochmuth-Simonetti lässt ein Bild vom Menschen entstehen, dass ihn als Gesellschaftswesen zeigt, dessen Wege sich immer wieder treffen und deren gemeinschaftliches Ziel der Weg nach vorne ist entsprechend dem unaufhaltsamen Fluss des Lebens.
Diesem bewegten Menschenbild Hochmuth-Simonettis steht das statisch-archaisch anmutende Werk der Künstlerin Paraschiva Boiu gegenüber. Wie auf Stelen bannt die Künstlerin menschliche Figuren auf alte Holzplanken. In ihrer Nacktheit sind die Wesen keiner Gesellschaft oder Schicht zu zuordnen. Sie sind ausschließlich Menschen, Individuen, die sich in ihrer äußeren Form, also in Größe und Stärke zwar unterscheiden, aber nicht in ihrer Ursprungsgeschichte.
Auf diesen Ursprung könnte das Material deuten, auf dem die Figuren gearbeitet sind.
Die alten Holzplanken könnten ein Bild für das Althergebrachte sein, in Form von Überliefertem und Tradition, das ein jeder von uns bewusst oder unbewusst als Grundstock seiner Persönlichkeit in sich trägt und die sich zurückführen läßt bis zur Herkunftsgeschichte des Menschen. Dabei entsteht ein Bild vom Menschen, dessen große Gemeinsamkeit seine Wurzeln sind, wobei es keine Rolle spielt, ob wir sie religiös oder naturwissenschaftlich zu erklären versuchen.
Beide Werke stehen in einem Kontext zueinander. Während Constanze Hochmuth-Simonettis inhaltlich auf den Weg nach vorne weist, richtet Paraschiva Boiu ihren Blick zurück auf die Wurzeln. Schon jetzt ahnen wir die Vielfalt der möglichen Bilder, die vom Menschen entstehen können, mit all seinen Hoffnungen, seinen Befürchtungen, seinen Fähigkeiten und seinen Grenzen.
Dabei entdecken wir, dass es manchmal in geradezu absurder Weise die Begrenzungen sind, die den Menschen zu noch größeren Überlegungen und noch weiteren Zielen animieren, ihn vorantreiben in exzessiver Lust, seine Begrenzungen zu überwinden und über sich selbst hinauszuwachsen.
Schon in der antiken Mythenwelt gab es eine Figur, die den Wunsch nach dem Überschreiten menschlicher Grenzen personifiziert. Es ist Ikarus mit seinem Wunsch, dem Labyrinth des Königs Minos fliegend entkommen zu wollen.
Zu diesem Zweck konstruierte Ikarus Flügel, deren Grundgerüst nur durch Wachs zusammen gehalten wurde. Zunächst schien sich sein Wunsch nach Flucht zu erfüllen. Er ergriff die Flügel, begann sie zu schwingen und erhob sich in die Lüfte. Schicksalhaft, aber, näherte er sich dabei zu sehr der Sonne. Das Wachs schmolz, die Konstruktion brach auseinander und Ikarus stürzte ins Meer.
Was Ikarus antrieb war der Wunsch aus seiner räumlichen Begrenztheit heraus, ein Ziel fern des Labyrinths zu erreichen und die Bereitschaft, für das Erreichen seines Ziels alles, auch das Scheitern seines Vorhabens, in Kauf zu nehmen.
Dieses Risiko, dass das Leben eben auch birgt, verbildlichen in ihrer gemeinschaftlich erarbeiteten Skulptur des „Ikarus“ Dirk Berthel und Ernst Herlet. Sie schufen eine Skulptur aus Papier auf Drahtgeflecht, die wie im Sturzflug kopfüber zu Boden zu gehen droht. Arme und ein zweiter Flügel existieren nicht.
Der eine Flügel hängt kraftlos zu Boden. Der Torso ist kräftig mit stämmig wirkenden Beinen, die in den Himmel ragen. Ob nun die Massigkeit des Körpers, die Kraftlosigkeit des so großen Flügels oder der senkrechte Sturzflug, die ganze Figur spiegelt das Scheitern der Idee vom Fliegen wider. Doch tut sie das wirklich? Ich denke, Ikarus hat sein vorrangiges Ziel, fliegend dem Labyrinth des Minos’ zu entkommen, schon erreicht. Was ihm nicht gelang, war persönlich zu überleben, aber was überlebte, war die Idee vom Fliegen.
Somit verbildlicht die Skulptur des Ikarus nicht nur das Scheitern menschlicher Fähigkeiten, vielmehr steht sie auch für den Mut des Menschen, seinen engen Strukturen entfliehen zu wollen.
Was dem Menschen droht, der sich starr den vorgegebenen Strukturen fügt, ohne sein eigenes schöpferisches Potential zu nutzen, könnte in der Arbeit von Margot Garutti mit dem Titel „Männlich – Weiblich“ seinen Ausdruck finden. Hier werden äußerliche Attribute von Mann und Frau in Form von Korsett und Hemd in zwei hochbeinigen Holzkäfigen ausgestellt. Wohl gestärkt entsprechen beide Attribute dem Bild vom ordentlichen Bürger. Aber aller äußerliche Schein trügt nicht darüber hinweg, dass beide Gefangen sind in sich selbst, nicht heraus können aus ihren Strukturen, die ihnen zwar Halt und Status geben, sie geradezu durchdringen, aber der eigenen Persönlichkeitsentwicklung keinen Raum mehr lassen.
Was passiert, wenn das Gegenteil eintritt, wenn sich Menschen grenzenlos entfalten, ungeachtet aller menschlichen Ethik, das Unmögliche möglich machen wollen, könnten wir in der Skulptur von Darius Monser erkennen. Er gestaltet einen Menschen aus Fieberglas und Acrylfarbe, der an Dummies und Gliederpuppen erinnert. Die Körperteile verbindet der Künstler mit Stahlscharnieren, Dichtungen und Maschinenteilen und lässt ein „Anthropomorphikum“ entstehen – einen künstlich erzeugten Menschen. Es entsteht eine Vision vom perfekten, auf Hochglanz polierten und mental verkabelten Menschen, bei dem nicht nur seine Körperteile beliebig ersetzbar sind, sondern gleich der ganze Mensch. Doch Darius Monser lässt seinen künstlichen Menschen auf die Vergewaltigung seiner Individualität reagieren. Das Anthropomorphikum rauft sich die Haare, entreißt sich die mentale Verkabelung und schreit seinen Schmerz über die Entmenschlichung seiner Selbst hinaus.
Ein solches Bild sensibilisiert. Es erschrickt und könnte eine Warnung bergen vor zu wagemutigen Eingriffen in die natürliche Entstehungs- und Lebensform des Menschen, wie sie vielerorts durch die Genforschung befürchtet wird. Vor uns entsteht ein Bild von der Angst vor der „Entseelung“ des Menschen.
Diese Vorstellung von der Existenz des Menschen am seidenen Faden verbildlicht in abstrakter ausdrucksstarker Weise die Arbeit von Petra Blume mit dem entsprechenden Titel: „Am seidenen Faden“. Ihre Arbeit besteht vorwiegend aus Holz. Ein Material dem wir gerne das Adjektiv „massiv“ hinzufügen. An zwei Seiten ist er durch hölzerne Gitterstäbe unzugänglich gemacht. Die zwei breiten Seiten dieses großen Kastens sind verschlossen, ebenso die Decke und der Boden. Seine Masse suggeriert Sicherheit. Er soll seinen Inhalt schützen, eine an einem Nylonfaden hängende kleine rote Schachtel.
Massiv und sicher wirken auch die Vierkanthölzer auf denen der Kasten zu ruhen scheint. Aber ihre Stärke und Höhe ist unstet und birgt eine gewisse Unruhe, die die Sicherheit der Konstruktion in Frage stellen kann.
Ebenso hinfällig scheint bei genauerer Betrachtung die Sicherheit der kleinen Schachtel im Innern des hölzernen Kastens zu sein, denn wie ein Damoklesschwert hängt schon die geöffnete Schere vor den Gitterstäben, bereit, durch die nur scheinbar schützenden Gitterstäbe hindurch, den Faden zu durchtrennen. Die Folge lesen wir, wie in einer Moritat gemalt auf den Seitenwänden des Kastens. Sie zeigen einen durchschnittenen Menschen, auf der einen Seite die obere Köperhälfte, während die andere Seite die ehemals tragenden Beine zeigen.
Trotz aller Schutzmaßnahmen wurde das Gleichgewicht des Menschen durch äußere Einflüsse durchschnitten und voneinander getrennt.
Von der Ent-zweiung erzählt auch die blau gefasste Skulpturengruppe von Tilmar Hornung mit dem sprechenden Titel „Die bessere Hälfte“. Sprechend ist auch die Aufstellung der Gruppe die aus zwei sitzenden voneinander abgewandten Torsihälften besteht. Von jedem Torso besteht nur die linke vertikale Hälfte. Beide Teile könnten sich selbst bei bestem Willen nicht ergänzen, so wie zwei linke Schuhe kein Paar ergeben können. Wie wenig sie zusammenkommen können verdeutlicht auch ihre voneinander abgekehrte Blickrichtung – Verschmelzung ausgeschlossen.
Raum für die unterschiedlichsten Assoziationen bezüglich der menschlichen Drillingsnatur von Körper, Geist und Seele gibt uns Hille Reick mit ihrer Triptichon-Collage mit dem Titel „Körper, Geist und Seele – im Fadenkreuz“.
In dieser Arbeit stehen die Bilder unterschiedlicher Menschen als Synonym für Körper, Geist und Seele, die zur Zielscheibe geworden sind und entsprechend im Zentrum ihrer drei Aquarelle als Collage eingefügt sind.
Doch wie wenig man letztendlich ein Menschenbild erfassen kann, wie wenig es in seiner ganzen Vielfältigkeit greifbar ist, führen uns letztendlich Jutta Schmitt und Berit Holzner vor Augen.
Jutta Schmitt schuf das Objekt „Fatamorgana“. Wie der Name schon verheißt, lebt es aus der Illusion. In diesem Fall aus Bildern von Licht und Schatten. Ein aus Stahlröhren geformter Würfel ist der Raum des Schauspiels. Die Akteure sind aus Draht geformte Figuren mit karikaturhaften Äußeren, von denen sich vier vor einem metallenen Tresen befinden. Die Figuren sind nicht wirklich zu fassen, egal, ob wir ihre Drahtkonturen verfolgen oder ihre Schatten, die sie hin und wieder auf die Mullbinden werfen mit denen die Seiten des Würfels teilweise bespannt sind. Das Bild, dass wir von ihnen haben ist und bleibt luftig.
Während Jutta Schmitt die Flüchtigkeit des Bildes darstellt, geht Berit Holzner mit ihrem imaginären Focus ins Innere des Menschen und das im wahrsten Sinne des Wortes:
Zu unserer Lebenszeit ist der Körper das Heim von Geist und Seele, auf den es zu achten gilt. Er ist das Kraftwerk, für unsere Energie und birgt die dafür nötigen Organe. Die Assoziation an diese lebenserhaltenden Innereien finden wir in vielen der Objekte von Berit Holzner, die die Künstlerin aus Zellstoff arbeitet und entweder im Grau des Zellstoffs beläßt oder farblich fasst.
Danach wird das Objekt in Paraffin getaucht oder mit Latex bepinselt, je nachdem, ob die Oberfläche zerfurcht oder glatt erscheinen soll. Das Resultat sind organische Formen, die an Hirn, Därme und Herzen erinnern.
Es sind Formen, die auf dem ersten Blick abschreckend wirken können. Doch will die Künstlerin nicht abschrecken, vielmehr ist ihr daran gelegen, an die Zartheit und Verletzlichkeit des menschlichen Organismus zu erinnern. Holzner sagt, sie schaffe Objekte, die gehäutet wirkten, aufgeplatzt, Entsetzen spiegelten und Ohnmacht, immer daran erinnern wollend, dass Gewalt die Lebendigkeit auslösche.
Und dass Gewalt auch in unserer kleinsten sozialen Gruppierung vorkommt, wenn auch ungewollt, darauf zielt der Holzdruck von Hermann Oberhofer mit dem Titel „Vater, Mutter, Kind“. Der Künstler thematisiert hier ganz konkret, wie Menschen versuchen, Diejenigen, die ihnen am nächsten stehen, nach ihren Vorstellungen zu formen: Die Mutter verfolgt das Kind, der Vater die Mutter und beide gemeinsam das Kind, verirrt im Wald ihrer Emotionen – natürlich immer nur zu ihrem gegenseitigen Besten.
Doch wie oft kehrt sich das vermeintlich Beste ins Gegenteil und wie oft wird aus Liebe Gewalt? Wie oft wird aus dem Wunsch zu formen, eine Deformation der Seele? Wie oft wird ein Mensch in seiner Einzigartigkeit respektiert und seiner Würde geachtet?
Die Künstler geben uns Einblicke in eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem Menschenbild. Dabei sind sie mutiger und ehrlicher als es Mancher vertragen kann. Ohne Worte präsentieren sie uns ihre Gedanken-, Gefühlswelten und Assoziationen, greifbar, und be-greifbar. Bieten ihre Sicht der Öffentlichkeit an und werden dadurch selbst angreifbar. Sie stellen sich, halten sich nicht zurück, riskieren die Ablehnung und das Unverständnis.
Meine Annäherung an ihre Arbeiten kann daher auch nichts weiter sein als ein Annährungsversuch. Dabei liegt es mir fern, zu beurteilen. Vielmehr möchte ich die künstlerische Sicht der Dinge als Anregung betrachten und so in einen gedanklichen Dialog mit ihnen treten.
Das Fazit könnte sein, dass sich unsere Bilder vom Menschen und von der Welt treffen und wir uns in einem stillen Einverständnis befinden.
Aber unsere Sichtweisen können sich auch voneinander unterscheiden, sich reiben. Beides ist erlaubt und gut, solange der Respekt vor der Sicht des Anderen gewahrt bleibt.
Und gerade dafür ist die Ausstellung „Menschenbilder“ der beste Lehrmeister.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen schönen Abend.
Das Künstlerprojekt „Macht Frieden“ e.V. hat schon von sich reden gemacht – und das nicht zu Unrecht, wie ich meine. Dieser Zusammenschluss von Künstlern aus Schweinfurt und der näheren und weiteren Umgebung ist eine wahre Bereicherung für all die Menschen, die Kunst nicht nur als dekoratives Beiwerk verstehen, sondern Kunst als Bestandteil des Lebens empfinden.
Zum Bestandteil des Lebens kann etwas gewollt oder ungewollt werden. Die Künstlerinnen und Künstler müssen schaffen, die Kunst ist Bestandteil ihres Lebens, ohne den das Leben für sie nicht greifbar wäre. Wir, die wir Kunst konsumieren, haben die Entscheidung, ja oder nein zur Kunst zu sagen. Wir können sie bewusst in unser Leben einfließen lassen. Sie kann uns ästhetische Bereicherung sein, aber wir können sie auch nutzen, um uns auseinander zu setzten mit uns, unseren gesellschaftlichen Strukturen und deren politische Auswirkungen.
Aber ist nicht die kritische Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft, in erster Linie die kritische Auseinandersetzung mit uns selbst, dem Menschen? Wir erkennen, dass Politik, Gesellschaft und Mensch eng miteinander verbunden sind; das Individuum ist geprägt von Sitte, Brauch und Tradition seiner Gemeinschaft, die wiederum durch die Ideen und Fähigkeiten seiner Individuen geprägt wird. Es kommt zu einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft, die sich explosionsartig entladen kann in Form von Revolutionen aller Art oder aber, sich nur langsam auswirkt und manchmal erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten seine Wirkung auf die Gesellschaft zeigt und ein sich immer in Bewegung befindliches Bild vom Menschen prägt.
Diese Bewegung, die während des gegenseitigen Einflussnehmens entsteht, meine ich im Gemälde von Constanze Hochmuth-Simonetti wieder zu finden. Das großformatige Werk der Künstlerin mit dem Titel „Der schmale Weg“ gibt auf dem ersten Blick eine gesichtslose Menschenmenge wieder. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die blass-monotone Farbgebung, die keinerlei Individualität vermuten lässt. Doch jeder weitere Blick eröffnet die Vielschichtigkeit der Bildaussage.
Die scheinbar gesichtslose Masse, wird zu einer Interessengemeinschaft, die sich auf unterschiedlichen Wegen und Abzweigungen in die gleiche Richtung bewegen, auf Wegen, die sich wie Schleifenband durch den Bildraum schlängeln. Fokussiere ich mich tiefer in das Bild hinein, erkenne ich die Menschen, die diese Gruppe ausmachen. Sie gehen nebeneinander her, wenden einander zu oder ab, tragen zur Bewegung der Gruppe bei oder dämpfen sie durch die Statik ihrer Körperhaltung. Doch die Bewegungsrichtung bleibt nach vorne gerichtet, unaufhaltsam einer gemeinsamen Zukunft entgegen. - Constanze Hochmuth-Simonetti lässt ein Bild vom Menschen entstehen, dass ihn als Gesellschaftswesen zeigt, dessen Wege sich immer wieder treffen und deren gemeinschaftliches Ziel der Weg nach vorne ist entsprechend dem unaufhaltsamen Fluss des Lebens.
Diesem bewegten Menschenbild Hochmuth-Simonettis steht das statisch-archaisch anmutende Werk der Künstlerin Paraschiva Boiu gegenüber. Wie auf Stelen bannt die Künstlerin menschliche Figuren auf alte Holzplanken. In ihrer Nacktheit sind die Wesen keiner Gesellschaft oder Schicht zu zuordnen. Sie sind ausschließlich Menschen, Individuen, die sich in ihrer äußeren Form, also in Größe und Stärke zwar unterscheiden, aber nicht in ihrer Ursprungsgeschichte.
Auf diesen Ursprung könnte das Material deuten, auf dem die Figuren gearbeitet sind.
Die alten Holzplanken könnten ein Bild für das Althergebrachte sein, in Form von Überliefertem und Tradition, das ein jeder von uns bewusst oder unbewusst als Grundstock seiner Persönlichkeit in sich trägt und die sich zurückführen läßt bis zur Herkunftsgeschichte des Menschen. Dabei entsteht ein Bild vom Menschen, dessen große Gemeinsamkeit seine Wurzeln sind, wobei es keine Rolle spielt, ob wir sie religiös oder naturwissenschaftlich zu erklären versuchen.
Beide Werke stehen in einem Kontext zueinander. Während Constanze Hochmuth-Simonettis inhaltlich auf den Weg nach vorne weist, richtet Paraschiva Boiu ihren Blick zurück auf die Wurzeln. Schon jetzt ahnen wir die Vielfalt der möglichen Bilder, die vom Menschen entstehen können, mit all seinen Hoffnungen, seinen Befürchtungen, seinen Fähigkeiten und seinen Grenzen.
Dabei entdecken wir, dass es manchmal in geradezu absurder Weise die Begrenzungen sind, die den Menschen zu noch größeren Überlegungen und noch weiteren Zielen animieren, ihn vorantreiben in exzessiver Lust, seine Begrenzungen zu überwinden und über sich selbst hinauszuwachsen.
Schon in der antiken Mythenwelt gab es eine Figur, die den Wunsch nach dem Überschreiten menschlicher Grenzen personifiziert. Es ist Ikarus mit seinem Wunsch, dem Labyrinth des Königs Minos fliegend entkommen zu wollen.
Zu diesem Zweck konstruierte Ikarus Flügel, deren Grundgerüst nur durch Wachs zusammen gehalten wurde. Zunächst schien sich sein Wunsch nach Flucht zu erfüllen. Er ergriff die Flügel, begann sie zu schwingen und erhob sich in die Lüfte. Schicksalhaft, aber, näherte er sich dabei zu sehr der Sonne. Das Wachs schmolz, die Konstruktion brach auseinander und Ikarus stürzte ins Meer.
Was Ikarus antrieb war der Wunsch aus seiner räumlichen Begrenztheit heraus, ein Ziel fern des Labyrinths zu erreichen und die Bereitschaft, für das Erreichen seines Ziels alles, auch das Scheitern seines Vorhabens, in Kauf zu nehmen.
Dieses Risiko, dass das Leben eben auch birgt, verbildlichen in ihrer gemeinschaftlich erarbeiteten Skulptur des „Ikarus“ Dirk Berthel und Ernst Herlet. Sie schufen eine Skulptur aus Papier auf Drahtgeflecht, die wie im Sturzflug kopfüber zu Boden zu gehen droht. Arme und ein zweiter Flügel existieren nicht.
Der eine Flügel hängt kraftlos zu Boden. Der Torso ist kräftig mit stämmig wirkenden Beinen, die in den Himmel ragen. Ob nun die Massigkeit des Körpers, die Kraftlosigkeit des so großen Flügels oder der senkrechte Sturzflug, die ganze Figur spiegelt das Scheitern der Idee vom Fliegen wider. Doch tut sie das wirklich? Ich denke, Ikarus hat sein vorrangiges Ziel, fliegend dem Labyrinth des Minos’ zu entkommen, schon erreicht. Was ihm nicht gelang, war persönlich zu überleben, aber was überlebte, war die Idee vom Fliegen.
Somit verbildlicht die Skulptur des Ikarus nicht nur das Scheitern menschlicher Fähigkeiten, vielmehr steht sie auch für den Mut des Menschen, seinen engen Strukturen entfliehen zu wollen.
Was dem Menschen droht, der sich starr den vorgegebenen Strukturen fügt, ohne sein eigenes schöpferisches Potential zu nutzen, könnte in der Arbeit von Margot Garutti mit dem Titel „Männlich – Weiblich“ seinen Ausdruck finden. Hier werden äußerliche Attribute von Mann und Frau in Form von Korsett und Hemd in zwei hochbeinigen Holzkäfigen ausgestellt. Wohl gestärkt entsprechen beide Attribute dem Bild vom ordentlichen Bürger. Aber aller äußerliche Schein trügt nicht darüber hinweg, dass beide Gefangen sind in sich selbst, nicht heraus können aus ihren Strukturen, die ihnen zwar Halt und Status geben, sie geradezu durchdringen, aber der eigenen Persönlichkeitsentwicklung keinen Raum mehr lassen.
Was passiert, wenn das Gegenteil eintritt, wenn sich Menschen grenzenlos entfalten, ungeachtet aller menschlichen Ethik, das Unmögliche möglich machen wollen, könnten wir in der Skulptur von Darius Monser erkennen. Er gestaltet einen Menschen aus Fieberglas und Acrylfarbe, der an Dummies und Gliederpuppen erinnert. Die Körperteile verbindet der Künstler mit Stahlscharnieren, Dichtungen und Maschinenteilen und lässt ein „Anthropomorphikum“ entstehen – einen künstlich erzeugten Menschen. Es entsteht eine Vision vom perfekten, auf Hochglanz polierten und mental verkabelten Menschen, bei dem nicht nur seine Körperteile beliebig ersetzbar sind, sondern gleich der ganze Mensch. Doch Darius Monser lässt seinen künstlichen Menschen auf die Vergewaltigung seiner Individualität reagieren. Das Anthropomorphikum rauft sich die Haare, entreißt sich die mentale Verkabelung und schreit seinen Schmerz über die Entmenschlichung seiner Selbst hinaus.
Ein solches Bild sensibilisiert. Es erschrickt und könnte eine Warnung bergen vor zu wagemutigen Eingriffen in die natürliche Entstehungs- und Lebensform des Menschen, wie sie vielerorts durch die Genforschung befürchtet wird. Vor uns entsteht ein Bild von der Angst vor der „Entseelung“ des Menschen.
Diese Vorstellung von der Existenz des Menschen am seidenen Faden verbildlicht in abstrakter ausdrucksstarker Weise die Arbeit von Petra Blume mit dem entsprechenden Titel: „Am seidenen Faden“. Ihre Arbeit besteht vorwiegend aus Holz. Ein Material dem wir gerne das Adjektiv „massiv“ hinzufügen. An zwei Seiten ist er durch hölzerne Gitterstäbe unzugänglich gemacht. Die zwei breiten Seiten dieses großen Kastens sind verschlossen, ebenso die Decke und der Boden. Seine Masse suggeriert Sicherheit. Er soll seinen Inhalt schützen, eine an einem Nylonfaden hängende kleine rote Schachtel.
Massiv und sicher wirken auch die Vierkanthölzer auf denen der Kasten zu ruhen scheint. Aber ihre Stärke und Höhe ist unstet und birgt eine gewisse Unruhe, die die Sicherheit der Konstruktion in Frage stellen kann.
Ebenso hinfällig scheint bei genauerer Betrachtung die Sicherheit der kleinen Schachtel im Innern des hölzernen Kastens zu sein, denn wie ein Damoklesschwert hängt schon die geöffnete Schere vor den Gitterstäben, bereit, durch die nur scheinbar schützenden Gitterstäbe hindurch, den Faden zu durchtrennen. Die Folge lesen wir, wie in einer Moritat gemalt auf den Seitenwänden des Kastens. Sie zeigen einen durchschnittenen Menschen, auf der einen Seite die obere Köperhälfte, während die andere Seite die ehemals tragenden Beine zeigen.
Trotz aller Schutzmaßnahmen wurde das Gleichgewicht des Menschen durch äußere Einflüsse durchschnitten und voneinander getrennt.
Von der Ent-zweiung erzählt auch die blau gefasste Skulpturengruppe von Tilmar Hornung mit dem sprechenden Titel „Die bessere Hälfte“. Sprechend ist auch die Aufstellung der Gruppe die aus zwei sitzenden voneinander abgewandten Torsihälften besteht. Von jedem Torso besteht nur die linke vertikale Hälfte. Beide Teile könnten sich selbst bei bestem Willen nicht ergänzen, so wie zwei linke Schuhe kein Paar ergeben können. Wie wenig sie zusammenkommen können verdeutlicht auch ihre voneinander abgekehrte Blickrichtung – Verschmelzung ausgeschlossen.
Raum für die unterschiedlichsten Assoziationen bezüglich der menschlichen Drillingsnatur von Körper, Geist und Seele gibt uns Hille Reick mit ihrer Triptichon-Collage mit dem Titel „Körper, Geist und Seele – im Fadenkreuz“.
In dieser Arbeit stehen die Bilder unterschiedlicher Menschen als Synonym für Körper, Geist und Seele, die zur Zielscheibe geworden sind und entsprechend im Zentrum ihrer drei Aquarelle als Collage eingefügt sind.
Doch wie wenig man letztendlich ein Menschenbild erfassen kann, wie wenig es in seiner ganzen Vielfältigkeit greifbar ist, führen uns letztendlich Jutta Schmitt und Berit Holzner vor Augen.
Jutta Schmitt schuf das Objekt „Fatamorgana“. Wie der Name schon verheißt, lebt es aus der Illusion. In diesem Fall aus Bildern von Licht und Schatten. Ein aus Stahlröhren geformter Würfel ist der Raum des Schauspiels. Die Akteure sind aus Draht geformte Figuren mit karikaturhaften Äußeren, von denen sich vier vor einem metallenen Tresen befinden. Die Figuren sind nicht wirklich zu fassen, egal, ob wir ihre Drahtkonturen verfolgen oder ihre Schatten, die sie hin und wieder auf die Mullbinden werfen mit denen die Seiten des Würfels teilweise bespannt sind. Das Bild, dass wir von ihnen haben ist und bleibt luftig.
Während Jutta Schmitt die Flüchtigkeit des Bildes darstellt, geht Berit Holzner mit ihrem imaginären Focus ins Innere des Menschen und das im wahrsten Sinne des Wortes:
Zu unserer Lebenszeit ist der Körper das Heim von Geist und Seele, auf den es zu achten gilt. Er ist das Kraftwerk, für unsere Energie und birgt die dafür nötigen Organe. Die Assoziation an diese lebenserhaltenden Innereien finden wir in vielen der Objekte von Berit Holzner, die die Künstlerin aus Zellstoff arbeitet und entweder im Grau des Zellstoffs beläßt oder farblich fasst.
Danach wird das Objekt in Paraffin getaucht oder mit Latex bepinselt, je nachdem, ob die Oberfläche zerfurcht oder glatt erscheinen soll. Das Resultat sind organische Formen, die an Hirn, Därme und Herzen erinnern.
Es sind Formen, die auf dem ersten Blick abschreckend wirken können. Doch will die Künstlerin nicht abschrecken, vielmehr ist ihr daran gelegen, an die Zartheit und Verletzlichkeit des menschlichen Organismus zu erinnern. Holzner sagt, sie schaffe Objekte, die gehäutet wirkten, aufgeplatzt, Entsetzen spiegelten und Ohnmacht, immer daran erinnern wollend, dass Gewalt die Lebendigkeit auslösche.
Und dass Gewalt auch in unserer kleinsten sozialen Gruppierung vorkommt, wenn auch ungewollt, darauf zielt der Holzdruck von Hermann Oberhofer mit dem Titel „Vater, Mutter, Kind“. Der Künstler thematisiert hier ganz konkret, wie Menschen versuchen, Diejenigen, die ihnen am nächsten stehen, nach ihren Vorstellungen zu formen: Die Mutter verfolgt das Kind, der Vater die Mutter und beide gemeinsam das Kind, verirrt im Wald ihrer Emotionen – natürlich immer nur zu ihrem gegenseitigen Besten.
Doch wie oft kehrt sich das vermeintlich Beste ins Gegenteil und wie oft wird aus Liebe Gewalt? Wie oft wird aus dem Wunsch zu formen, eine Deformation der Seele? Wie oft wird ein Mensch in seiner Einzigartigkeit respektiert und seiner Würde geachtet?
Die Künstler geben uns Einblicke in eine ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem Menschenbild. Dabei sind sie mutiger und ehrlicher als es Mancher vertragen kann. Ohne Worte präsentieren sie uns ihre Gedanken-, Gefühlswelten und Assoziationen, greifbar, und be-greifbar. Bieten ihre Sicht der Öffentlichkeit an und werden dadurch selbst angreifbar. Sie stellen sich, halten sich nicht zurück, riskieren die Ablehnung und das Unverständnis.
Meine Annäherung an ihre Arbeiten kann daher auch nichts weiter sein als ein Annährungsversuch. Dabei liegt es mir fern, zu beurteilen. Vielmehr möchte ich die künstlerische Sicht der Dinge als Anregung betrachten und so in einen gedanklichen Dialog mit ihnen treten.
Das Fazit könnte sein, dass sich unsere Bilder vom Menschen und von der Welt treffen und wir uns in einem stillen Einverständnis befinden.
Aber unsere Sichtweisen können sich auch voneinander unterscheiden, sich reiben. Beides ist erlaubt und gut, solange der Respekt vor der Sicht des Anderen gewahrt bleibt.
Und gerade dafür ist die Ausstellung „Menschenbilder“ der beste Lehrmeister.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen schönen Abend.